Mittwoch, 10. März 2010

These 4: Verlegen als Interaktion - Von der Vorauswahl zum Access

Die traditionellen Mediengattungen Zeitung, Zeitschrift, Buch sind geprägt von den körperlichen Limitierungen und Grenzen der (Gutenberg’schen) Print-Welt. Im Zuge der Entwicklung des Handwerks und der Industrialisierung wurden diese Grenzen immer weiter hinausgeschoben. Die Differenzierung und Verbreitung der heutigen Printmediengattungen sucht seinesgleichen. Der Redaktionsschluss einer Tageszeitung weit nach Mitternacht und Zustellung in den Briefkasten des Leser bis 6 Uhr Morgens, heute eine Selbstverständlichkeit, so sehr haben wir uns daran gewöhnt.

Autoren, Redakteure und Lektoren sind durch professionelle Ausbildung trainiert, Inhalt und Form als Einheit zu denken. Text, Bild und Medium in perfekter Harmonie, „Einheit aus Inhalt und Form“. Und der Leser wurde über Jahrhunderte „trainiert“ auf Qualität zu achten. Man kann nicht alle Bücher kaufen, man kann nicht jede Zeitung lesen, man muss die Richtigen auswählen. Die Vor-Auswahl des Wichtigen und Relevanten für den Leser, das war die originäre Kernleistung des Verlegers über Jahrhunderte. (Und heute nicht mehr? Dazu später mehr.)

Doch im Internet gibt es keine (körperlichen) Grenzen (mehr). Verlegen als Vorauswahl des Wichtigen für definierte Zielgruppen war nur ein Spezialfall der Print-Welt. Verlegen 2.0 heißt heute: (digitaler) Access (Zugang) zu allem was für mich als Individuum in diesem Augenblick relevant ist. Auch der VDZ schließt sich offenbar nun dieser Meinung mit seiner Broschüre „Alles. Jederzeit. Überall“ an.

Das Internet bietet völlig neue Möglichkeiten Inhalte zu erstellen, darzustellen, zu bündeln, zu verlinken, zu vernetzen, zugänglich zu machen und zu nutzen. Um diese neuen Möglichkeiten sehen und weiter entwickeln zu können, müssen wir allerdings zuerst von unsere körperlichen Produktvorstellungen aus der Print-Welt über Bord werfen. Die Kraft der schöpferischen Zerstörung wurde bereits vor Jahrzehnten in der Makroökonomie von Josef Schumpeter bekannt gemacht.

Der Long Tail des Chris Anderson beschreibt eindrucksvoll die Überwindung der Zugangsgrenzen der bisherigen Produktgranulierungen der analogen und der Printwelt (der professionellen Verlage) durch digitale Technologien. Google öffnete den weltweiten Zugang zu allen digitalen „Inhalte-Spuren“ im WWW, Facebook beginnt damit die Persönlichkeitsprofile des modernen Users weltweit zu kartographisieren und twitter & Co. beginnen unsere Interaktionsprofile in Echtzeit zu vermessen und für das Marketing des 21. Jahrhunderts aufzubereiten. Da können die Telekommunikationsriesen nicht länger untätig bleiben. Mitte Februar haben sich 24 führende Telekommunikationsunternehmen zur „Open Global Alliance“ zusammengetan, um im globalen Wettstreit um die weltweite Verteilung (Zugang verschaffen) der „Apps“ endlich auch mit von der Partie zu sein.

Das Internet hat alle Branchen digitalisiert, nicht nur die Inhalte-Branche (der Verlage). Mündliche und schriftliche, private wie geschäftliche Kommunikation und Interaktion sind heute digitalisiert und ersetzen mehr und mehr die direkte (körperliche) Interaktion. Das bisherige passive Konsumieren von (Verlags-) Inhalten ist jetzt medienbruchlos eingebettet in den gesamten Interaktionsprozess des Users. Der User „kauft“ Inhalte nicht länger auf Vorrat, warum sollte er auch, wir erklären ihm jeden Tag, wie schnell alles „veraltet“, er möchte aus seinem täglichen Interaktionsprozessen spontan genau das kontextuell jetzt passende aus dem Inhalte-Universum „herausgreifen“ bzw. Zugang haben. Er selbst (möchte) künftig bestimmen, was wichtig und relevant ist. Und er hat mächtige Unterstützer auf seiner Seite.

Den Kindern eine Zeitung, geschrieben für den Erfahrungshorizont von Erwachsenen, vier Wochen lang in die Schulklasse liefern, wird daran nichts ändern. Längst ist das statusträchtige „Besitzen“ bzw. „Abbonieren“ von „wichtigen“ Büchern oder Zeitungen längst dem viel statusträchtigeren Besitzen der Gadgets von Apple & Co. gewichen. Das schickeste Userinferface-Device und die größte Access-Reichweite, das sind die (medialen) Statussymbole der kommenden Generation. Die (Print-) Verleger waren Jahrhunderte lang die Gatekeeper des "Inhalte-Zugangs durch Verteilen und Besitzen". Hierin lag ein wichtiger Wettbewerbs- und Differenzierungsfaktor. In der digitalen Welt funktioniert diese digitale Kopie des alten "Zungangsmodells" jedoch nicht.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen