Sonntag, 22. Juni 2014

Strategische Kennzahlen für Fachverlage im Medienwandel (2)

In Folge 1 habe ich darüber gesprochen, daß der richtige Zeitpunkt, auf grundlegende Marktveränderungen zu reagieren, von Verlag zu Verlag sehr unterschiedlich sein kann. Die Märkte sind komplex, die verfügbaren empirischen Daten und Marktmodelle können die Realität meist nur näherungsweise abbilden, weshalb der Intuition eine wichtige Rolle zukommt. Doch zukunftsprägende Entscheidungen allein mit Intuition zu begründen ist vielleicht für inhaber-geführte Verlage möglich, Manager müssen diese, soweit immer möglich, mit empirischen Daten begründen.

In Folge 2 möchte ich jetzt fragen, inwieweit wir mit umsatz-bezogenen Kennzahlen erkennen können, ob sich Märkte grundlegend ändern und ab wann wir reagieren müssen. Umsatzbezogene Daten haben einen großen Vorteil: Sie sind so gut wie immer verfügbar oder mit geringem Aufwand zu erstellen.
Das wichtigste operative Controlling-Ritual ist der monatliche Umsatz-Soll-Ist-Vergleich, ergänzt um den Vorjahresvergleich. Damit kann monatlich erkannt werden, ob der Umsatz im geplanten Korridor liegt. Die monatlichen Zahlen schwanken jedoch häufig mehr oder weniger zufällig um die (meist linear nivellierten) Planwerte. Häufig kann man bei größeren Abweichungen die Ursachen schnell erkennen, zum Beispiel verzögerte Auslieferung, verschobene Vertriebsaktionen, stornierter Großauftrag etc. und mit  (zusätzlichen) operativen Maßnahmen auf der Produkt- oder  Vertriebsebene dagegen steuern. Damit ist aber noch nichts gesagt über längerfristige Marktveränderungen.

Wie kann man nun erkennen, ob die Schwankungen, egal ob monatlich oder über mehrere Jahre, einen generellen Marktwandel anzeigen oder nur das Auf und Ab des üblichen Wettbewerbs sind? Und wann ist der richtige Zeitpunkt, das aktuelle Produktportfolio oder Geschäftsmodell grundlegend zu innovieren? Wann muß ich zum Beispiel von Print auf Digital wechseln, in welcher Form, in welche Ausprägung oder muß ich gar nicht, obwohl der Wettbewerb dies bereits tut?

Grundlegende Veränderungen
verlaufen fast immer in der Form einer S-Kurve. Dies bedeutet, dass zu Beginn nur wenige Kunden mit dem bisherigen Produkt unzufrieden werden und abwandern, sobald eine neuartige und ausreichend gute Alternative im Markt erhältlich ist. Der flache Beginn der S-Kurve ist oftmals deutlich länger als die zweite Phase, wenn die Veränderungsgeschwindigkeit exponentiell zu steigen beginnt. Spätestens in dieser Phase droht jedoch die Gefahr, auch für anerkannte Produkt-Marken, ins Abseits zugeraten. Haben sich zu dieser Phase neue Wettbewerber-Marken etabliert, kann dies zu dauerhaften Marktverschiebungen führen.
Zwei Beispiele möchte ich anführen. Einmal die Anzeigenrubriken in den Tageszeitungen und die Loseblatt-Rechtsprechungssammlungen der Juristen. Beide wurden etwa zeitgleich im Verlaufe nur eines Jahrzehnts, etwa von 2000 bis 2010, vollständig von der Papier-Plattform auf die Digital-Plattform verdrängt. In beiden Fällen sind durch diesen Medienplattform-Wandel neue Produktmarken von bisher branchenfremden Anbietern im Markt entstanden, wodurch dauerhaft Marktanteile verloren wurden. In beiden Beispielen haben die betroffenen Verlage den Wandel kommen sehen, sich jedoch vom flachen Beginn der S-Kurve zu lange täuschen lassen.
Das heißt, wir benötigen Kennzahlen die anzeigen, wann der flache, langsame Veränderungsverlauf zu steigen beginnt, denn dies ist der späteste Zeitpunkt, an dem sie reagieren müssen. Dies ist, wie ausgeführt, aufgrund der „normalen“ Schwankungen des traditionellen Geschäfts nicht einfach zu erkennen. Steigt zum Beispiel bei einem Fachbuchverlag der Printumsatz aufgrund eines oder mehrerer zufälliger Bestseller stark an, verwischt dieses den Wendepunkt vom flachen zum steilen Verlauf. Das heißt, auch ein mehrjähriger Vergleich von aggregierten Umsätzen mit den Vorjahren alleine reicht nicht aus, obwohl zufällige Schwankungen dadurch leichter nivelliert werden, da hier fast immer Preiserhöhungen, Portfoliobereinigungen u.a. Effekte „versteckt“ sind. Gerade Preiserhöhungen haben in den letzten Jahren das „wahre“ Ausmaß des Medienwandels in vielen Marktsegmenten lange verschleiert. Wir benötigen deshalb Umsatz-Kennzahlen, die diese Verzerrungen vermeiden. Folgende bieten sich an:
1.        Durchschnitts-Umsatz je Produkt und Produktkategorie
2.        Durchschnitts-Verkäufe je Produkt und Produktkategorie
3.        Durchschnitts-Umsatz je Kunde und Kundengruppe
4.        Durchschnitts-Verkäufe je Kunde und Kundengruppe
Ad. 1: Beim Durchschnitts-Umsatz je Produkt über mehrjährige Zeitreihen sollte man unbedingt zwei Effekte herausrechnen: Preiserhöhungen und Preisinflation. Ein sinkender/steigender Wert kann dann bedeuten: Das Produktportfolio hat sich in Richtung niedrig-/höher-preisiger Produkte verschoben. Das heißt, die Kennzahl muß bei Verlagen mit einem heterogenen Produktportfolio differenziert werden nach Produktkategorie und Produkt-Marktsegment. Innerhalb eines homogenen Segments kann ein über mehrere Jahre zurückgehender Preis einen höheren Wettbewerbsdruck anzeigen: Einerseits durch traditionelle (und bessere) Wettbewerberprodukte, andererseits auch durch neuartige Wettbewerbsprodukte, die bereits beginnen einen grundlegenden Marktwandel einzuleiten. Bei einem gestiegenen Wert sollte man sich aber nicht in „Sicherheit“ wähnen. Dieser kann Ausdruck eines schwächer gewordenen Wettbewerberumfelds sein oder in der  Vergangenheit nicht ausgeschöpfter Preiselastizität. Dies erhöht aber die Wahrscheinlichkeit, daß die Kunden sich aktiv nach preisgünstigeren Alternativen umsehen und bereit sind neuartige Produktansätze von neuen, auch unbekannten Wettbewerbern auszuprobieren, selbst wenn diese noch nicht so „gut“ sind, wie die etablierten Marken.
Ad. 2: In jedem Fall ist der parallele Blick auf die Durchschnitts-Verkäufe je Produkt (brutto und netto) wichtig. Sind die Verkäufe zurückgegangen bei steigenden Preisen, kann dies bedeuten, dass das Pricing überzogen wurde und evtl. korrigiert werden muss. Ist der Rückgang bei stabilen oder niedrigeren Preisen erfolgt, kann dies eine strukturelle Vertriebsschwäche sichtbar machen oder, dies gilt es zu erkennen, einen schleichenden strukturellen Marktwandel. Wichtig ist die Unterscheidung in Brutto- und Netto-Verkäufe (Verkäufe nach Remissionen). Steigen die Remissionen über mehrere Perioden hinweg, obwohl der Vertriebsdruck nicht erhöht worden ist und ausgeschlossen werden kann, daß an eine Nebenzielgruppe oder gar falsche Zielgruppe verkauft worden ist, ist vermutlich der Nutzenwert der Produkte für die Zielgruppe zurück gegangen. Dann ist sofort zu klären, weshalb und ob dies noch durch traditionelle Produktverbesserungen heilbar ist. Verfälscht werden können diese Daten und Interpretationen durch sinkende oder steigende Zielgruppenzahlen. Verringert sich  die Zielgruppe, zum Beispiel aus demografischen Gründen, wie dies derzeit in vielen Verlagsmärkten der Fall ist, sinken natürlich auch die Verkäufe, auch wenn sie alles richtig gemacht haben.
Ad. 3 und 4: Deshalb sind diese Daten zusätzlich zu vergleichen mit dem Durchschnitts-Umsatz und Durchschnittsverkäufen je Kunde und/oder Kundengruppe. Sinkt der Umsatz, weil weniger Stück verkauft wurden, obwohl der Vertrieb alles richtig gemacht hat, ist dies ein Hinweis auf stärker gewordene traditionelle Wettbewerber (bessere Qualität oder besseres Preis-Leistungsangebot) oder, falls dies ausgeschlossen werden kann, auf eine grundlegende Marktverschiebung aufgrund neu-artiger, heute in aller Regel digitaler Produktmodelle.

Diese vier Kennzahlen sollten immer gemeinsam betrachtet und interpretiert werden. Sinnvoll ist, sie auch als prozentuale Veränderungen darzustellen. Wenn, allgemein gesagt, über mehrere Zeitperioden hinweg, das Verkaufen schwieriger und teurer geworden ist, und nicht nur bei Ihnen, sondern auch bei den direkten Wettbewerbern, spätestens dann sollten sie unverzüglich durch qualitative Kundenbefragungen in der Kernzielgruppe nach Ursachen forschen. Die kritische Frage ist immer: kann  das traditionelle Produktkonzept noch (wirtschaftlich) durch weitere Verbesserungen fit gemacht werden oder muß jetzt der Umstieg auf einen neu-artigen Produktansatz gestartet werden.

Um vorschnelle Fehlinterpretationen durch betriebsinterne Ursachen und Sondereffekte zu vermeiden sollten Sie allerdings weitere Kennzahlen zu Rate ziehen. Als zweite Gruppe werde ich in Folge 3 daher auf Kosten-Kennzahlen  eingehen.

Mittwoch, 11. Juni 2014

Strategische Kennzahlen für Fachverlage im Medienwandel (1)

Sie kennen den Spruch „Die Zukunft ist immer schon da“, um auszudrücken, dass die Innovations-entwicklung stets ungleich verläuft. Manche Marktsegmente und Marktteilnehmer gehören zu den frühen Pionieren, andere verlassen erst später die angestammten Geschäftsfelder, manche nie. Dann allerdings greift der Spruch: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“. Die Botschaft ist berechtigt, doch ebenso berechtigt ist der Spruch „Wer dem Markt zu weit voraus marschiert, auch der verliert den Kontakt zu den Kunden“. Beispiele gibt es zu Hauf.

Die Marktsituation und die interne Situation sind häufig für jedes Unternehmen sehr unterschiedlich. Damit ist der „richtige“ Zeitpunkt für die Anpassung der bestehenden Prozesse und Produkte an neue Marktgegebenheiten ebenso unterschiedlich. Die Kunst ist zu erkennen, wann für das eigene Unternehmen der beste Zeitpunkt ist. Ich verwende das Wort Kunst und nicht Wissenschaft, da das Erkennen dieses richtigen Zeitpunkts mindestens zu 50% Kunst und höchstens zu 50% Wissenschaft ist. Könnte man den richtigen Zeitpunkt wissenschaftlich berechnen, gäbe es schlichtweg nur erfolgreiche Unternehmen im Markt.

Heute wird durch die massive Berichterstattung über die neue Zauberformel „Big Data“ wieder einmal der verführerische Eindruck erzeugt, künftiger Markterfolg ließe sich wissenschaftlich-rational berechnen. Ich meine: Sicher, in vielen Fällen, aber sicher in vielen Fällen eben nicht. Seit Clayton M. Christensen mit seinem klugen Buch The Innovator’s Dilemma (1997) die Theorie der disruptiven Innovation zum strategischen Allgemeingut werden ließ,  ist jedoch die Aufgabe, den richtigen Zeitpunkt zu erkennen, eine Pflichtaufgabe für jeden Manager geworden. Genau zwei Methoden stehen hierfür zur Verfügung: Intuitive Heuristik und empirische Marktdaten.

Ich denke, auch in Ihrem Unternehmen spielen eigentlich schon immer beide Ansätze eine Rolle, häufig in unterschiedlicher, auch leidenschaftlicher Ausprägung. Trotz vieler psychologischer Studien darüber, wie wir Entscheidungen im Wirtschaftsleben treffen, nämlich immer mit einem großen Anteil an intuitiver Heuristik, tun wir in unseren Geschäftsberichten meistens so, als ob alle Entscheidungen daten-mäßig abgesichert wären.
Die Start-up-Kultur „start quick, fail fast“ ist für die traditionell vorsichtige Verlagslandschaft nicht wirklich opportun. Dennoch, start quick (intuitive Heuristik) und fail fast (empirische Daten) bringt die Verbindung der beiden Methoden perfekt auf den Punkt. Es sind nämlich keine konkurrierenden sondern sich ergänzende Methoden, letztlich zwei Seiten einer Medaille.

Reale Entscheidungen liegen immer irgendwo im Kontinuum zwischen Sicherheit und Unsicherheit. Wichtig ist daher, getroffene Entscheidungen mit der Umsetzung sofort empirisch zu begleiten, um möglichst schnell ausreichend Daten über Erfolg oder Nicht-Erfolg genieren zu können. Denn je früher man ein neu begonnenes Projekt richtigerweise abbricht, desto geringer sind die verlorenen Projektkosten. Richtigerweise heißt, dass die Entscheidung zum Abbruch eben auch richtig ist, das heißt, dass das neue Projekt aufgrund der gewonnen empirischen Daten, keinen Markterfolg haben wird.  Dumm wäre natürlich, wenn man aus „Ängstlichkeit“ ein Projekt vorschnell als nicht marktfähig bewertet und abbricht.
In den nächsten Wochen werde ich mit einer kleinen Reihe „strategische Kennzahlen“ einige Kennzahlen für das Erkennen fundamentaler Marktveränderungen erläutern. (Zum Unterschied zwischen operativen und strategischen Kennzahlen sei auf den Blogeintrag „Strategisches Controlling“ verwiesen.)