Mittwoch, 19. März 2014

Orientierungslos – G8, G9, gymnasiale Schulpolitik im 21. Jahrhundert

Strategie ohne Ziel – zum Scheitern verurteilt

Februar 2014. Das Volksbegehren der Freien Wähler hat nun auch in Bayern, wie in vielen anderen Bundesländern, die Schulpolitiker wieder wachgerüttelt. Die Bundespolitik betet seit Jahren das Mantra „Bildung ist Deutschlands wichtigster Rohstoff“. Innovations- und Bildungsgipfel sind hoch im Kurs, doch eine langfristige Schulentwicklungs-Strategie ist nicht erkennbar.

Jede Strategie beginnt mit der einfachen Frage: Woher kommen wir und wohin wollen wir? Erinnern wir uns also: Weshalb wurde eigentlich vor rund zehn Jahren im Hauruck-Verfahren das G8 eingeführt? Die deutschen Studenten seien im internationalen Vergleich zu alt, hieß es. Nein, nicht zu schlecht, im Gegenteil, deutsche Universitätsdiplome waren weltweit angesehen, aber zu alt. 13 Jahre bis zum Abitur, statt 12 Jahre, wie international üblich, Wehrplicht und eine Regelstudienzeit von 4-5 Jahren bis zum deutschen Universitäts-Diplom- oder Magisterabschluss, führten dazu, dass unser akademischer Nachwuchs mit ca. drei Jahren „Verspätung“ in das Berufsleben startete. Und dies angesichts einer immer älter werdenden Gesellschaft. Die Politik musste deshalb sofort handeln, war sie jedenfalls überzeugt.

Politik und Verbände wussten darüber hinaus, dass die Qualität des bisherigen 13-jährigen Abiturs durch die Verkürzung jedoch keinesfalls verringert werden durfte. Da Qualität mit Wissensmenge gleichgesetzt wurde und, mit Verlaub, bis heute wird, und die Ganztagsschule ebenso opportun war, war die Lösung schnell gefunden. Man verteilte das 13-jährige Curriculum auf 12 Jahre und weitete den Unterricht auf den Nachmittag aus. Die Schüler hatten ja bislang nachmittags frei und für die Hausaufgaben gibt es ja den Feierabend. So schnell geht das. Gleiche Qualität, alles nur ein Jahr schneller. Wow! Ja?

Doch, wie war das, das Abitur ist ein Reifezeugnis? Unsere Abiturienten sollen eben gerade nicht abgefüllte lebende Wissenscontainer werden? Und Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht? Doch unsere Schüler können mit Hilfe des G8 ein Jahr schneller reifen? So ganz sicher waren sich die G8-Macher wohl doch nicht. Vielleicht führten Sie ja deshalb ein kumulierendes Notensystem ein: Jede Note, von Beginn der 11. Klasse bis zum Abitur, geht in die Abiturendnote ein. Das zu einer Zeit, in der der Numerus-Clausus-Notendruck einen Höchststand erreicht. Die Schüler müssen deshalb zwei Jahre ohne Unterbrechung maximale Performance zeigen, kleine Schwächen, Verschnaufpausen oder seelische Krisen zwischendurch, im Alter zwischen 16 und 18 Jahren ja nicht gänzlich unerwartbar, das geht leider nicht (mehr). Die Klagen der Eltern, dass das einfach nicht geht, blieben lange ungehört.

Nachdem nun die ersten kompletten G8-Jahrgänge Abitur gemacht und viele Landespolitiker das bessere Gymnasium wieder als Wahlkampfthema entdeckt haben, geht der ideologische Klein-Kampf um G8 oder G9 in eine neue Runde, mit „deutscher“ Gründlichkeit, multipliziert auf 16 Bundesländer, denn Bildung ist so wichtig, da muss jedes Bundesland einen eigenen Weg gehen. Doch, was ist nun die allseits akzeptierte Lösung? Ganz einfach: Zurück zu Start. Wir verlängern einfach die Schulzeit wieder um ein Jahr. Und ruck zuck, schon wieder ist die neue Lösung fertig. Wiederum wow! Und noch besser, wir lassen den Schülern einfach die Wahl zwischen G8 und G9. Dann müssten doch wirklich alle (Wähler?) zufrieden sein. Dann können die guten („schnellen“) Schüler ein Jahr schneller reifen und die „langsamen“ eben ein Jahr langsamer.

Die Komplexität der Organisationsprozesse auf Seiten der Gymnasien dahinter ist vom Feinsten. Ein nebeneinander von 30 bis 40 verschiedenen Fächern und Kursen, zig Fächerwahloptionen, und jetzt nochmals differenziert nach G8 und gleichzeitig G9 und alles schön getrennt nach 16 Bundesländern, kein Problem. Unsere Schulbürokratie mit ihren reform-gestählten Beamten, die schafft das schon.

Um es auf den Punkt zu bringen: Das ursprüngliche Ziel, die Schuldauer zu verkürzen ohne die Qualifikationsansprüche zu verkürzen, war einfach dumm und von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Und auch das ursprüngliche Ziel, das Alter der Abiturienten ein Jahr zu verkürzen, war kein sinnvolles Ziel. Fragen Sie sich: Kann die Schuldauer überhaupt ein Bildungsziel sein? Muss nicht eigentlich der Inhalt des Bildungszieles die Dauer der Schulzeit bestimmen? Dann sind wir sofort bei der wichtigsten strategischen Frage überhaupt. Was ist das Bildungsziel? Und, woher wissen wir, was unsere Schüler und Abiturienten im 21. Jahrhundert wissen und können müssen? Wer kann diese Frage beantworten? Die Wissenschaft, die Verbände, die Politik oder nur die Gesellschaft insgesamt?

Kann in einer Zeit, in der die Halbwertszeit des Faktenwissens immer schneller sinkt und der Zugang durch das Internet jederzeit und überall möglich ist, die bloße Vermittlung und das Auswendiglernen von Faktenwissen noch ein sinnvolles Bildungsziel sein? (Das böse Wort von der Bulimie-Schule wurde leider durch das G8 weiter verstärkt.) Kann es sein, dass in einer Zeit, in der durch die Digitalisierung und Vernetzung aller Lebensbereiche die soziale und emotionale Komplexität unserer Schüler drastisch zunimmt, in der die Lehrer über immer „anstrengendere“ Schüler jammern, das reflexhafte Festhalten am herkömmlichen (150 Jahre alten) Schulmodell, egal ob in G8- oder G9-Form, das völlig überholte und falsche Ziel ist?

Ich meine, es ist jetzt aller höchste Zeit über das neue Bildungsziel der Schule im 21. Jahrhundert zu diskutieren und zu entscheiden. Und diese Diskussion darf nicht länger nur von den digital immigrants domminiert werden. Hier müssen die digital natives massiv eingebunden werden, denn es ist Ihre Zukunft, über die die „Qualität“ des Schulsystems entscheidet. Erst nachdem Klarheit und ein breites, über Parteigrenzen hinausgehendes gesellschaftliches Einvernehmen über das Bildungsziel besteht, erst dann kann undogmatisch und zielgerichtet über den richtigen Weg zu diesem Ziel diskutiert und entscheiden werden.

Es ist ein banales Bonmot, dass jede Strategie richtig ist, wenn das Ziel nur ausreichend unklar oder überhaupt nicht formuliert ist. Und der dann zwangsweise folgende Streit über die richtige Strategie wird zur never-ending story, zu einer andauernden intellektuellen Ressourcenverschwendung. Macht es im 21. Jahrhundert weiterhin Sinn, 16 Bundesländer über das das bessere Gymnasium und das bessere Schulsystem streiten zu lassen? Macht es Sinn, im Jahres- oder Wahltagsrhythmus eklektizistische Nachbesserungen mit dogmatischem Eifer zwischen G8 und G9 hin und her zu schieben? Die Rückkehr zum G9 ist kein Fortschritt, sondern Rückschritt und die Wahloption zwischen G8 und G9 ist vielleicht gut gemeint, bindet aber noch mehr Geld und Ressourcen in ein konzeptionell veraltetes Schulsystem. Ein System, das noch immer auswendig gelerntes Faktenwissen belohnt und individuelle Varianz bestraft, Kreativität systematisch unterdrückt und Methodik und Teamarbeit für überflüssig hält. Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht, deshalb war das G8 die falsche Lösung, Es war die einfache Lösung, entstanden aus dem Denkmodel des 20. Jahrhunderts, dem Höher, Schneller, Weiter. Eine Lösung die zur Effizienzsteigerung technisch-organisatorischer Prozesse taugt, aber nicht auf psychologische Entwicklungsprozesse übertragbar ist.

Im digital-vernetzten Zeitalter des 21. Jahrhunderts, in dem das Faktenwissen überall verfügbar ist, zählen andere Werte und Kompetenzen: Empathie und Methodenwissen, Kreativität, Individualität, soziale Reife, emotionale Belastbarkeit, Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit. Werte und Befähigungen, die sich nicht durch Auswendiglernen ausbilden können, sondern individuelle Reifezeit und individuelle pädagogische Führung erfordern, von der Grundschule bis zum Abitur.

Der Wandel von der bisherigen Wissensvermittlungs-Schule zur Kompetenzvermittlungs-Schule benötigt jedoch Zeit, viel Zeit. Es erfordert pädagogisch-psychologisch ausgebildete Lehrer von der Grundschule bis zum Abitur, Lehrer, die die Schüler zum selbstständigen und eigenverantwortlichem Denken und Problemlösen ermutigen und anleiten können, Lehrer die fächer-übergreifend wirken, Teamarbeit vorleben und Kreativität und Fragemethodik belohnen.

Dieser Wandel ist riesengroß. Er ist schlichtweg ein Paradigmenwechsel. Dieser Wandel geht nicht innerhalb einer Wahlperiode und kann durch partei-politisch geprägte Veränderungsprojekte nicht bewältigt werden. Bei grundlegendem Wandel geht es jedoch überhaupt nicht um die Schnelligkeit, sondern einzig um die Nachhaltigkeit.

Im Grunde gibt es nur zwei Arten von Wandel: trivial oder traumatisch. Auch unsere Wirtschafts-unternehmen tun sich sehr schwer mit grundlegendem Wandel und versuchen häufig, sich so lange mit trivialen Innovationen vor dem grundlegenden Wandel zu drücken, bis die wahren Innovatoren von außerhalb Ihrer Branche sie mit der Kraft der schöpferischen Zerstörung traumatisch vom Markt verdrängen. Schule hat aber keine Konkurrenten, die erstarrte Strukturen vom Markt verdrängen können. Wenn wir jetzt unsere Energie nur auf die Fehler des G8 fokussieren, werden wir zwangsläufig bei einem besseren G8 oder G9 landen und verlängern dadurch nur die Lebensdauer des veralteten Schulsystems aus dem 19.Jahrhundert. Können wir dadurch wirklich die Probleme des 21. Jahrhunderts lösen?

Kann es sein, dass jede Gesellschaft die Schule hat, die sie verdient? Ich hoffe nicht, ich hoffe, dass auch unsere Generation jetzt die Kraft hat, die Schule grundlegend neu zu erfinden. Nur drei einfache, aber dennoch so schwierige Schritte sind notwendig:
1. Einsicht, dass der bisherige Weg trivialer Innovationen in eine Sackgasse führt
2. Klärung: Was wollen wir? Was ist das Bildungsziel der Schule im 21. Jahrhundert
3. Danach, wirklich erst danach, Ableitung einer gemeinsamen Veränderungsstrategie

Diese Veränderungsstrategie ist nicht trivial und muss alle Institutionen, die die Schule bestimmen, umfassen. Nur im Dreiklang aus Schule, Universität und Lehrerausbildung kann dies gelingen. Also, wer hat den Mut und die Größe, jetzt einen völlig neuen Weg einzuleiten?